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Karikaturinterpretation (Geschichtswissenschaft)
Auf dieser Seite sehen Sie eine Karikatur aus dem Jahr 1789 mit dem französischen Titel: „A faut esperer q'eu s jeu la finira bentot“ Le Tiers-État portant le Clergé et la Noblesse sur son dos.
Das Interpretieren von Karikaturen ist für das Studium der Geschichte von ähnlich großer Bedeutung wie das Studium von literarischen, epigraphischen oder numismatischen Quellen. In dieser Aufgabe geht es darum, wie man sich die Aussage einer Karikatur erschließen kann. Ordnen Sie die fünf schematischen Arbeitsschritte zur Interpretation einer Karikatur sinnvoll an. Ziehen Sie dafür die einzelnen Blöcke mit der Maus in die richtige Position.
Auf dem tief gebeugten Rücken eines alten, sorgenvoll dreinschauenden, zerlumpten Bauern, der sich schwer auf seine Feldhacke stützt, sitzen scheinbar unbekümmert ein lächelnder, wohlgenährter Prälat, aus dessen Ärmeln Spitzenmanschetten hervorragen und der ein Schönheitspflaster im Gesicht trägt, und ein prächtig ausstaffierter Edelmann mit Adelsdegen („épée de cour“). Der Prälat schiebt mit einer Hand seine Weste leicht zur Seite, so daß das zu Armut, Demut und Bescheidenheit verpflichtende (und sein Auftreten kontrastierende!) Kreuz zu sehen ist, mit der anderen hält er sich mit festem Griff an der Schulter des Bauern fest; der Edelmann umklammert wie auf einem Motorradsitz seinen Vordermann.
Auf der Feldhacke des Bauern und auf dem Degen des Adeligen finden sich Inschriften; aus der Westentasche des Prälaten und der Hosentasche des Bauern hängen beschriebene Zettel. – Weiterhin sind Rebhühner zu sehen, die die Saat aufpicken, und Hasen, die sich über einen Kohlkopf hermachen.
Wie erwähnt, finden sich zahlreiche Texte auf dem Flugblatt, zuerst natürlich seine Bildunterschrift, die im Einführungstext erwähnt wird und die besagt: „Es ist zu hoffen, daß dieses Spiel (im Sinne von Unwesen) bald ein Ende hat. Der Dritte Stand, Klerus und Adel auf seinem Rücken tragend.“ – Auf der Feldhacke des Bauern steht „mit Tränen getränkt“ („embué de larmes“), auf dem Degen des Edelmannes „von Blut gerötet“ („rougé de sang“). Aus der Hosentasche des Bauern hängen drei Zettel, die seine schwersten Belastungen aufzählen: Die Salzsteuer (die indirekte, als ungerecht empfundene gabelle) und die Tabaksteuer, die direkte, von den Gemeinden in den Pays d'élections für den König eingetriebene Steuer (die „taille“) und die Fronarbeit, weiterhin der kirchliche Zehnt („décime“) und den unpopulären, aber unausweichlichen Dienst in den Milizen („milices“). Die aus der Westentasche des Prälaten hängenden Zettel benennen die von den Symbolfiguren des Prälaten und des Adeligen dargestellten Mitglieder des Ersten und Zweiten Standes, die meist hochadeligen Bischöfe und Abbés, die Herzöge, Pairs und Grafen, deren steuerfreier Unterhalt („pension“) und deren „Prahlerei“ („ostentation“) eigens als kritikwürdig hervorgehoben werden.
Die Textelemente werden über die Standeskennzeichen (bäuerliche Feldhacke, adeliger Degen) und die aus verschiedenen Taschen ragenden Zettel verteilt; eingesetzt wie Spruchbänder, beschreiben sie die Bedrückungen, denen sich der Dritte Stand von Seiten der beiden privilegierten Stände ausgesetzt sieht.
Die Feldhacke in der Hand des alten Bauern bedeutet die schwere körperliche Arbeit, mit der er sich selbst, die privilegierten Stände und den ganzen Staat erhält; sie ist „von Tränen getränkt“. Der „von Blut gerötete“ Adelsdegen ist einmal Rangabzeichen des Adels oder des adeligen Offizierscorps, er zeigt aber auch dessen despotisches Gehabe und den Einsatz von Waffengewalt zur Durchsetzung seiner Ansprüche. – Die Kleidung aller Figuren verweist auf die Verteilung von Reichtum und Armut. – Die Rebhühner und Hasen, die die Ernte des Bauern bedrohen, symbolisieren das adelige Jagdprivileg, das sich die Bauern auf ihrem Besitz gefallen lassen mußten: es verbot den Bauern, Wild von ihren Feldern zu vertreiben (und selbst zu jagen), und bedeutete die Vernichtung eines großen Teils der Ernte durch über die Felder reitende adelige Jagdgesellschaften.
Alle Symbole zusammengenommen zeigen, daß der Dritte Stand unter den Belastungen der Steuern, des Zehnt, der Fronen und weiteren Abgaben an die Grundherren wie den König, und endlich des Kriegsdienstes fast zusammenbricht; auch durch Privilegien wie dem Jagdprivileg wird er seiner Lebensgrundlagen beraubt. Dennoch muß der Dritte Stand zwei faule und unnütze Stände und zugleich das gesamte Staatswesen tragen.
Das vorliegende Blatt entstand im Jahr 1789, also noch im Ancien Régime und zugleich im Jahr des Ausbruchs der Französischen Revolution. Das Flugblatt greift die vieltausendfach in den „cahiers de doléance“ vorgebrachten Beschwerden des Dritten Standes (Le Tiers-État) auf, der über 90% der Bevölkerung ausmachte. Im Gegensatz zu den privilegierten ersten beiden Ständen, dem Klerus und dem Adel, hatte der Dritte Stand, bestehend aus Bürgern und Bauern, alle Lasten (Steuern, Abgaben) und Verpflichtungen (Kriegsdienst) des Staates zu tragen. Obwohl die ersten beiden Stände die größten Vermögens- und Landbesitzer waren, mußten sie keine Steuern und Abgaben zahlen; auch die Verpflichtung zum Kriegsdienst galt nicht für sie.
Die allgemeine außenpolitische Situation Frankreichs in Europa ist ebenso zu klären wie Frankreichs innen- und finanzpolitischer Zustand. Wann wurde klar, daß der Staat völlig überschuldet war? Wer versuchte in der Regierungszeit König Ludwig XVI. Reformen? Wann und wodurch ausgelöst begann sich die Unzufriedenheit des Dritten Standes Luft zu verschaffen? Welche Rolle spielt die Aufklärung dabei?
Zeichner, Kupferstecher und Texter schreiben diesem Flugblattes bzw. dieser Karikatur vor dem Hintergrund des Jahres 1789 (noch vor dem Ausbruch der Französischen Revolution) eine scharfe Kritik am Staatsaufbau Frankreichs im Ancien Régime ein. Doch steht zu erwarten, daß der tief gebeugte alte Bauer (der Dritte Stand) sich aufrichtet, die beiden anderen Stände (Adel und Klerus) abschüttelt und seine Feldhacke (seine Wehr und sein Werkzeug) als Waffe gegen sie erhebt: Damit scheint geradezu die berühmte Einleitungspassage der im Januar 1789 erschienenen Flugschrift „Was ist der Dritte Stand?“ („Qu'est-ce que le Tiers État?“) des Abbé Emmanuel Joseph Sieyès illustriert zu werden, in der es heißt: „1. Was ist der Dritte Stand? – Alles. 2. Was ist er bisher in der politischen Ordnung gewesen? – Nichts. 3. Was fordert er? – Etwas zu sein.“
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