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Mittellateinische Philologie als Nebenfach (Modulangebot)

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Walter von Châtillons Alexandreis und ihre Vorbilder

Die Alexandreis des Dichters Walter von Châtillon (12. Jh.), die in zehn Büchern das Leben und die Feldzüge Alexanders des Großen beschreibt, zählt zu den berühmtesten lateinischen Epen des Mittelalters. Bei der Abfassung stützte sich Walter auf historische Quellen wie etwa die Alexandervita des Curtius Rufus, zog aber zur Ausgestaltung ebenso klassische lateinische Epen heran. So bediente er sich vor allem der Aeneis Vergils und des Bellum civile von Lucan, das – ebenfalls in zehn Büchern – den Bürgerkrieg zwischen Caesar und Pompeius beschreibt.

Im folgenden finden Sie zwei Textausschnitte. Der erste stammt aus der Alexandreis und beschreibt die Abfahrt Alexanders mit seinem Heer nach Kleinasien zu Beginn des Persienfeldzuges; der zweite stammt aus Lucans Bellum civile und beschreibt die Flucht des Pompeius von Brundisium nach Griechenland zu Beginn des Bürgerkriegs.

[…] Fugitiva per altum
classis dum raptim patrie furatur alumpnos,
sponte licet properent Persarum invadere fines
nec trahat invitos ad predae premia ductor,
sola tamen revocat patriae dulcedo volentes
nec sinit a patria divelli mentis acumen
sed dulces oculos animumque retorquet ad Argos
donec ab intuitu longe decrescere visus
Europae defecit apex portusque recessit.
Tanta sub invicto bellandi corde voluntas,
tanta parentis erat obliuio, tanta sororum.
Solus ab Inachiis declinat lumina terris
effrenus Macedo. Qui cum Cilicum prius arva
collibus eductis Asiamque emergere vidit,
gaudet, et angustum vix gaudia tanta receptat
pectoris hospicium. Remis incumbere nautas,
nec solum tensis ultra se credere velis,
leticia dampnante moram iubet. Ocius illi
haut segnes per transtra parant assurgere dicto
principis et multo castigant uerbere pontum.
Tantum aberat classis portus statione, lapillum
quantum funda potest celeri transmittere iactu.
Eminus emissa Peleus harundine terram
vulnerat hostilem, faustumque hoc predicat omen
tota cohors, letoque ferunt ad sydera plausu.

Als die über das Meer dahinstürzende Flotte die Zöglinge des Vaterlands mit sich hinwegreißt, da ruft sie, obschon sie freiwillig eilen, in das Land der Perser einzufallen, und sie ihr Anführer nicht gegen ihren Willen hin zum Beutelohn mit sich zieht, der Zauber der Heimat zurück, so bereitwillig sie auch sind, und lässt nicht zu, dass sie ihre Gedanken vom Vaterland losreißen, sondern wendet ihre Augen und ihren Sinn zurück zum lieblichen Argos, bis schließlich die Landspitze Europas, die in der Ferne immer kleiner zu werden schien, ganz aus ihrem Blickfeld verschwindet und auch der Hafen nicht mehr zu sehen ist. So groß ist der Kampfeswille in einem unerschütterlichen Herzen; so schwer fällt es, Eltern und Schwestern zu vergessen.

Einzig der unbändige Makedonenfürst wendet die Augen ab vom inachischen Land. Als er zuerst Kilikiens Fluren auf hohen Hügeln und schließlich Kleinasien auftauchen sieht, freut er sich und der enge Raum in seiner Brust fasst kaum die übergroße Freude. Weil seine Freude keine Verzögerung duldet, befiehlt erden Seemännern, sich in die Ruder zu legen und sich nicht mehr nur den geschwellten Segeln anzuvertrauen. Die machen sich auf das Wort des Fürsten hin geschwind und voller Eifer daran, sich auf den Ruderbänken aufzurichten und peitschen das Meer mit zahlreichen Schlägen.

Die Flotte war nur noch so weit vom Landeplatz im Hafen entfernt, wie man ein Steinchen in schnellem Wurf mit einer Schleuder schießen kann. Alexander verwundet die feindliche Erde mit einer von weither geworfenen Lanze; die ganze Schar preist dieses gute Vorzeichen und lässt ihren fröhlichen Beifall zum Himmel emporsteigen.

(Prosaübersetzung nach der Versübersetzung von G. Streckenbach)

Propulit ut classem velis cedentibus Auster
incumbens mediumque rates movere profundum,
omnis in Ionios spectabat navita fluctus:
solus ab Hesperia non flexit lumina terra
Magnus, dum patrios portus, dum litora numquam
ad visus reditura suos tectumque cacumen
nubibus et dubios cernit vanescere montis.
inde soporifero cesserunt languida somno
membra ducis; diri tum plena horroris imago
visa caput maestum per hiantis Iulia terras
tollere et accenso furialis stare sepulchro.

Als sich der Südwind in nachgiebige Segel legte und die Flotte vorwärtstrieb, sodass schon Kiel um Kiel die hohe See aufrührte, schaute jedermann an Bord ins Ionische Meer hinaus; einzig der große Feldherr wandte seinen Blick nicht von Hesperiens Festland, solange er den Heimathafen, solange er auf Nimmerwiedersehen das Gestade, einen wolkenverhangenen Gipfel und verschwommene Berge entschwinden sah. Dann sank der Führer vor Ermattung in benommenen Schlaf. Da hatte er ein böses, schaudervolles Traumgesicht: die Erde tat sich auf, und Julia [die erste Ehefrau des Pompeius und Tochter Caesars] hob in Gram ihr Haupt hervor, stand furiengleich auf brennendem Holzstoß. [Sie verkündet ihm anschließend in einer langen Rede die Schrecken des künftigen Bürgerkriegs und droht ihm an, ihn stets weiter zu verfolgen.]

(Übersetzung: W. Ehlers)

Lesen Sie beide Textausschnitte genau und vergleichen Sie sie! Versuchen Sie, eigene Antworten auf die unten stehenden Fragen zu entwickeln! Mit einem Klick auf die Fragestellungen können Sie sich anschließend mögliche Interpretationsansätze anzeigen lassen.

Walter verwendet dieselbe grobe Gliederung wie Lucan: Er beschreibt erst die Abfahrt der Flotte und das Verhalten der Seeleute, um es dann in Kontrast zum Verhalten des Anführers zu setzen, und schließlich ein Vorzeichen, das den Ausgang der Fahrt andeutet. Dabei verkehrt er die übernommenen Situationen fast zur Gänze in ihr Gegenteil: Die Blickrichtung und die damit einhergehende Stimmung der Seeleute und der Anführer sind jeweils umgekehrt und auch das Omen ist bei Walter im selben Maße glücklich wie bei Lucan schrecklich. Ein solches Verfahren nennt man Kontrastimitation.

Die mit der Abfahrt verbundenen Emotionen des Pompeius und seiner Gefolgsleute lassen sich bei Lucan allerhöchstens implizit aus der Beschreibung folgern, während Walter sie explizit und detailliert beschreibt. Außerdem ist bei Walter im Rahmen der imitierten Textpassage bereits Land in Sicht, während sich Pompeius bei Lucan noch auf hoher See befindet, was Walter die Möglichkeit verschafft, einerseits sein Omen so auszugestalten, wie er es tut, und andererseits den Kontrast zwischen der Mannschaft und Alexander noch zu verstärken, indem er der nach und nach am Horizont verschwindenden Heimat das langsame Auftauchen des Ziels der Reise entgegensetzen kann. Walter scheint also sein Vorbild nicht nur nachzuahmen, um ihm besonders nahe zu kommen (imitatio), sondern durch Ergänzungen und Erweiterungen auch einen bestimmten Mehrwert bieten zu wollen (aemulatio).

Aus den unterschiedlichen Situationen, die Lucan und Walter beschreiben, ergibt sich von Anfang an eine ganz andere Grundstimmung: Der erzwungenen Flucht des Pompeius zu Beginn eines Krieges, den er kurz darauf verlieren wird, steht der Beginn eines hoffnungsvollen, freiwilligen Unternehmens gegenüber, das in die Eroberung eines riesigen Reiches mündet. Dementsprechend gegensätzlich beschrieben sind vor allem die Anführer, was sich auch in der – mutatis mutandis – vollständigen Übernahme des die Beschreibung jeweils einleitenden Verses zeigt: solus ab Hesperia non flexit lumina terra / Magnus vs. solus ab Inachiis declinat lumina terris / effrenus Macedo. Pompeius hängt nicht nur an seiner Heimat, die er wider Willen verlassen muss, sondern er steht im vorliegenden Textabschnitt auch in keinerlei Beziehung zu seinen Gefolgsleuten. Alexander dagegen explodiert fast vor Tatkraft, die durch den Anblick des Ziels ebenso großen Auftrieb erhält wie die Wehmut des Pompeius durch das Verschwinden des Heimathafens, und steckt damit seine ganze Mannschaft an, die sich eifrig in die Ruder legt, weil das bloße Segeln wie bei Lucan nicht ausreicht. Auch die Omina lassen sich dementsprechend bewerten: Pompeius sinkt, weil er völlig ermattet ist, in Schlaf und muss sich seinem fürchterlichen, bedrohlichen Traumgesicht allein und im Privaten stellen, während Alexanders Lanzenwurf als ein weiterer Ausdruck seines übergroßen Elans und Kampfeseifers gelesen werden kann, der vor versammelter Mannschaft stattfindet und die Truppe in ihrem Unternehmen noch einmal zusätzlich eint.